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Eleftherios Venizelos (1864-1936) - Ein hervorragender Staatsmann Neugriechenlands

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Eleftherios Venizelos

Die Periode 1895-1909 war in Griechenland durch eine Krisensituation gekennzeichnet, die teils auf aussen-, teils auf innenpolitische Gründe zurückging. Nach dem Staatsbankrott (1893) kam der für Hellas unglückliche griechisch-türkische Krieg von 1897. Er stand mit der sich seit der kretischen Revolution der Jahre 1866-1869 immer mehr verschärfenden Kretafrage in Zusammenhang. Zur Kretafrage vgl. Pavlos Tzermias, Kreta von Knossos bis Kazantzakis, Mähringen 2003. Im Zeitpunkt der Entstehung des neugriechischen Staates konnten die Kreter, die sich mit Begeisterung dem gesamtgriechischen Nationalkampf angeschlossen hatten, an der ersehnten Freiheit nicht Anteil haben. Die Insel wurde den Ägyptern überlassen, die von den Türken zur Hilfeleistung gegen den Griechenaufstand gerufen worden waren. Zehn Jahre nach dem Londoner Protokoll von 1830 waren die Türken wieder Herrscher auf Kreta. Für das kretische Volk folgte eine Periode der Erhebungen und Enttäuschungen, des Leidens und des Blutvergiessens. Nach der Revolution der Jahre 1866-1869 führten weitere Aufstände auf der Insel (1878, 1889, 1895 und 1897) zum Eingreifen Griechenlands (1897). Die Verwicklung des „Mutterlandes“ in einen Krieg mit der Türkei endete jedoch mit einer Niederlage. Es war eine Zeit der nationalen Demütigung, von welcher der Dichter Kostis Palamas in einem sprichwörtlich gewordenen Vers sagte: „Alle Feuer sind im Lande erloschen...“.

Im Jahre 1909 kam es zur sogenannten Erhebung von G[o]udi, d.h. zur Ergreifung der Macht durch eine Militärliga, den Stratiotikos Syndesmos. Der Stratiotikos Syndesmos kontrollierte zwar manu militari die Lage, war aber ausserstande, das Land effizient zu regieren. Der Politiker Kyriakoulis Mavromichalis (1850-1916), der das Amt des Ministerpräsidenten innehatte und gleichsam als Statthalter der Militärliga fungierte, gehörte der „Welt der Vergangenheit“ an. Das Gesetzgebungsverfahren stiess auf Widerstände und Wirren im Parlament. Die Erhebung schien in eine Sackgasse geraten zu sein. In jener kritischen Phase fasste die Militärliga den Entschluss, den kretischen Politiker Eleftherios Venizelos (1864-1936) um seine Dienste als Vermittler bzw. als politischer Führer zu ersuchen. Mit seinem Schreiben vom 22. Dezember 1909 (alter Kalender) lehnte es Venizelos vorerst ab, ohne vorheriges näheres Studium der Lage die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wenige Tage später reiste er nach Athen, um sich über die Situation ein genaueres Bild zu machen. Er bewältigte die schwierigen Probleme meisterhaft. In einem ersten Stadium vermittelte er zwischen den Parteien (Stratiotikos Syndesmos, Krone, Repräsentanten der politischen Kräfte). Die Militärliga löste sich auf. Die gemäss den Vorstellungen Venizelos´ gebildete Regierung Stefanos Dragoumis führte im August 1910 Wahlen für ein Verfassungsänderndes Parlament durch. Im Oktober desselben Jahres war der grosse Kreter Ministerpräsident. Seine politische Formation, die Partei der Liberalen (Komma Ton Fileleftheron), wurde zur treibenden Kraft des politischen Wechsels.

Die Berufung Venizelos´ durch den Stratiotikos Syndesmos nach Athen war eine Tat von grosser Bedeutung. Diese Feststellung bildet sozusagen eine Opinio communis in der einschlägigen Literatur. Bestimmte Autoren unterstreichen allerdings die Rolle des kretischen Politikers in den Jahren 1909-1910 mit der offensichtlichen Intention, andere Faktoren (so z.B. die Aspirationen der aufsteigenden bürgerlichen Schicht) herunterzuspielen. Venizelos war der richtige Mann in einer änderungsträchtigen Lage. Ohne letztere hätte der zielbewusste Kreter nicht Geschichte machen können. Ohne ihn hätte sich die Situation anders entwickelt. Eine Verkennung der objektiven Gegebenheiten läuft auf eine Venizelos-Mythologie hinaus. Eine Unterschätzung der Rolle des Kreters führt zu einem Determinismus, der mit dem historischen Geschehen unvereinbar ist. Plastisch kennzeichnet der Historiker Georgios Ventiris die Situation am Vorabend des Auftritts des Kreters auf der Athener politischen Bühne mit der Bemerkung: „Es gab fast alle Voraussetzungen für eine Erneuerung des politischen Lebens der Griechen. Es fehlten die Einheit der Handlungen und die Konzentration der Kräfte.“ Durch seine Führung verlieh Venizelos der Erneuerungsbewegung Einheit und Konzentration. Er tat es mit dem Selbstbewusstsein, das ihn auszeichnete. Venizelos war ein Gegner des Fatalismus. Er betonte dies in seinem „Selbstnekrolog“, der heute auf seinem Grabstein in Akrotiri bei Chania auf Kreta zu lesen ist. Unter Fatalismus verstand er offenbar das tatenlose Hinnehmen des „Schicksals“ der Nation.

Das Territorium des griechischen Staates wuchs unter der Führung von Venizelos im Zuge der Balkankriege von 63 211 auf 120 300 Quadratkilometer, Griechenlands Bevölkerung von 2 631 952 auf 4 718 221 Einwohner. Dazu hat der „Gegner des Fatalismus“, Eleftherios Venizelos, auf entscheidende Weise beigetragen. Sein Wirken erwies sich allerdings deshalb als fruchtbar, weil Hellas vom Übel des nationalen Zwists nicht befallen war. Es zeichnete sich zwar schon während des Ersten Balkankrieges ein Antagonismus zwischen Venizelos und Kronprinz Konstantin ab. Doch zum Bruch kam es nicht. Beide Männer dienten Griechenland - jeder auf seine Weise. Die nationale Spaltung kam später. Trotz des grossen diplomatischen Erfolgs Venizelos´ im Friedensvertrag von Sèvres im Jahr 1920 scheiterte die Realisierung seines Grossgriechenland-Ideals an verschiedenen widrigen Umständen, nicht zuletzt an der Obstruktion der royalistisch-konservativen Kräfte, am entschlossenen Abwehrkampf der Türken unter dem hervorragenden Staatsmann Kemal Atatürk und an der zuungunsten Griechenlands veränderten internationalen Lage.

Wer nicht einem vulgären Determinismus in der Geschichtsschreibung huldigt, darf die Frage aufwerfen, welchen Gang die Ereignisse genommen hätten, wenn bei den Wahlen vom 1. November 1920 (alter Kalender) Venizelos gesiegt hätte. Die diesbezügliche Diskussion hat allerdings nur dann einen Sinn, wenn sie ohne romantische Heroisierung der Person des grossen Kreters erfolgt und den objektiven Gegebenheiten der betreffenden Epoche nüchtern Rechnung trägt. Venizelos war in gewissem Sinne, wie ihn der Politiker Georgios Papandreou (1888-1968) einmal charakterisiere, ein „träumerischer Realist“. Doch bei seinen Schachzügen auf dem diplomatischen Sektor behielt er die internationale Konstellation der Kräfte stets im Auge. Das gilt trotz ihrer visionären Elemente auch für seine Aussenpolitik betreffend das „Griechenland der zwei Kontinente und fünf Meere“. Kritische Erörterungen über seine Strategie - insbesondere auch über Einzeleile derselben - können die Geschichtsschreibung nur befruchten. Wäre Venizelos der Wahlsieger vom November 1920 gewesen, so hätte wohl die Entwicklung in dieser oder jener Hinsicht eine andere Richtung genommen, zumal der Führer der Liberalen trotz seines Glaubens an seine „nationale Mission“ viel realistischer war als mancher seiner eifrigen Anhänger. Risiken nahm Venizelos gerne auf sich. Doch er verstand es auch, sich den jeweiligen Verhältnissen anzupassen. Und stets war er darauf bedacht, im Interesse der Überwindung der nationalen Spaltung nach Möglichkeit Kompromisse einzugehen. Selbst unter der starken Führung Venizelos´ wäre allerdings für Griechenland das Streben nach Verwirklichung der Kleinasien-Vision ein sehr unsicheres Unterfangen gewesen.

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Eleftherios Venizelos

In der Zeit der „nationalen Wiedergeburt und Erneuerung“ Griechenlands standen die Wörter „liberal“ und „Liberalismus“ hoch im Kurs. Das gilt insbesondere für die Periode des Wirkens von Eleftherios Venizelos. Dieser begann seine politische Laufbahn im damals autonomen Kreta, in der sogenannten Kritiki Politeia. Er setzte sich für die Vereinigung (Enosis) der Insel mit dem „Mutterland“ ein und erwarb sich als Verfechter eines mit nationalen Anliegen verknüpften Liberalismus einen über die Grenzen seiner engeren Heimat hinausreichenden Ruf. 1909, in dem Jahre also, das von vielen griechischen Historikern als wichtige Zäsur in der Geschichte des modernen Griechenland betrachtet wird, wurde Venizelos, wie erwähnt, vom Stratiotikos Syndesmos, der gegen die Herrschaftspraktiken der Krone und der „alten politischen Welt“ revoltiert hatte, als politischer Berater nach Athen berufen. Ein Jahr später gründete er die Liberale Partei (Komma Ton Fileleftheron) und übernahm das Amt des Ministerpräsidenten.

Es folgte eine Zeit grundlegender Reformen auf den Gebieten der Verwaltung, der Justiz, des Schul- und des Militärwesens, und, in Zusammenhang damit, gelang es Venizelos dank ausgeprägtem politischem Sensorium durch eine geschickte Aussenpolitik die geschilderte Erweiterung des Territoriums Griechenlands in hohem Masse zu erreichen. Dem Verfechter der Megali Idea, des Grossgriechenland-Ideals, wäre es 1920 beinahe gelungen, das „Hellas der zwei Kontinente und der fünf Meere“ zu errichten. Mit der Kleinasiatischen Katastrophe (1922) war der Traum der Megali Idea augeträumt. Venizelos war aber realistisch genug, 1930 einen Freundschaftsvertrag mit dem einstigen Erzfeind, der Türkei, abzuschliessen und damit eine Diplomatie einzuleiten, die unter die langjährigen Auseinandersetzungen einen Schlusspunkt setzen sollte.

Die Gründung und das Wirken der Liberalen Partei Griechenlands waren daher von Anbeginn an einerseits mit einer nationalen Zielsetzung, andererseits mit der Existenz einer charismatischen Persönlichkeit verbunden. Eine dritte, nicht zu unterschätzende Komponente bestand im sozialen Moment. Die Venizelisten waren die treibende Kraft für die Agrarreformen, die allerdings wegen der Verknüpfung der Innenpolitik mit den nationalen Anliegen und insbesondere wegen der Notwendigkeit der Aufnahme zahlreicher Flüchtlinge aus Kleinasien nicht immer rationell geplant und durchgeführt wurden. Im Laufe der Zeit machte sich zweifelsohne eine Erlahmung der sozialpolitischen Dynamik der Liberalen bemerkbar. Das hatte unter anderem die Bildung von Gruppen und Parteien zur Folge, die ein stärkeres soziales Engagement aufwiesen. Hierher gehört zum Beispiel die sogenannte „Gruppe der Soziologen“, die unter dem Einfluss sozialpolitischer Doktrinen der Zeit der Weimarer Republik stand und aus der die von Alexandros Papanastasiou (1876-1936) gegründete Dimokratiki Enosi (Demokratische Union) hervorging. Es gehört jedoch zu den Hauptcharakteristika des politischen Lebens in Griechenland, dass nicht selten sozialpolitische Bewegungen aus dem Schosse des traditionellen Liberalismus hervorgegangen sind.

Historisch gesehen blickt der politische Liberalismus in Griechenland somit auf eine Aktivität zurück, die ohne falsches Pathos epochemachend genannt werden darf. Insofern hat das Wort „Liberalismus“ heute noch in der hellenischen politischen Realität einen positiven Klang. Jetzt existiert allerdings in Hellas die Liberale Partei des grossen Kreters Venizelos nicht mehr. Zum Teil ist dies auf die Tatsache zurückzuführen, dass das Komma Ton Fileleftheron von Anfang an stark personalisiert war. Die Partei stand und fiel mit der Person ihres charismatischen Führers. Zum Niedergang der Liberalen Partei haben jedoch auch andere Ursachen beigetragen. In den Perioden der Diktatur Metaxas (1936-1941), der ausländischen Besetzung (1941-1944), des Bürgerkriegs (1946-1949), der Dominanz der traditionellen Rechten (1953-1963) und der Militärdiktatur (1967-1974) vermochte sich der politische Liberalismus nicht zu einer ausschlaggebenden Kraft zu formieren. Während der ausländischen Okkupation (1941-1944) fand im Zuge der Résistance gegen die deutschen Nazis und die italienischen Faschisten eine Radikalisierung eines grossen Teils der Bevölkerung statt, die unter anderem dazu führte, dass die KP Griechenlands (KKE) zu einem der wichtigsten Faktoren der politischen Entwicklungen im Lande wurde. Die Diadochen Venizelos´ unterliessen es damals im allgemeinen, das Nötige zu tun, um nicht den Kommunisten und anderen Linkskräften das Feld zu überlassen. Nach dem Ende des Bürgerkrieges (1946-1949) erhoffte sich ein grosser Teil der griechischen Wählerschaft von den liberalen Zentrumsparteien die innere Befriedung des Landes. Der liberale Kurs scheiterte aber teils an der Polarisierung der Kräfte, teils an den zahlreichen äusseren Einmischungen und den verschärften internationalen Spannungen. Das Intermezzo der Regierungszeit der von Georgios Papandreou angeführten Zentrumsunion (1963-1965) endete mit einer Systemkrise (1965-1967), die zur Diktatur der Obristen (1967-1974) führte. Abgesehen davon war die Zentrumsunion von Anbeginn an ein Konglomerat liberaler, sozialdemokratischer, sozialistischer und anderer Strömungen, die keineswegs harmonisch koexistierten. Die ideologisch-politische Potenz eines Liberalismus mit sozialem Gesicht äussert sich terminologisch im Umstand, dass z.B. ein anderer bedeutender Staatsmann Neugriechenlands, Konstantinos Karamanlis (1907-1998), die Ideologie der von ihm gegründeten Nea Dimokratia mit der Bezeichnung „radikaler Liberalismus“ skizzierte.

Der Verfasser des nachstehenden Beitrags, Gräzist an den Universitäten Freiburg i.Ü. (1965-1995) und Zürich (1984-1992), Direktor des Europäischen Kulturzentrums Delphi (1977-1979) und Griechenland- und Zypernberichterstater der Neuen Zürcher Zeitung (1967-1995), ist Autor zahlreicher Bücher und Abhandlungen in verschiedenen Sprachen. Für sein wegweisendes Wirken auf dem Gebiet der Griechenlandstudien wurde er durch hohe Auszeichnungen geehrt: Preis der Athener Akademie, Auszeichnungen durch den Präsidenten der griechischen Republik, durch die Stadt Thessaloniki, durch den Präsidenten der Republik Zypern, zwei Festschriften u.a.m. Am 30. März 2000 wurde Pavlos Tzermias als Korrespondierendes Mitglied in die Athener Akademie, die höchste Kulturinstitution des Landes, aufgenommen. EL POLITISMOS bat den renommierten Wissenschaftler und politischen Analytiker, Eleftherios Venizelos´ historische Leistung zu würdigen. Pavlos Tzermias stützt sich dabei nicht nur auf seine zahlreichen geschichtlichen Werke, sondern auch auf das Archiv seines Vaters Nikolaos G. Tzermias, der ein enger Mitarbeiter des Eleftherios Venizelos war.